Behinderung und Sexualität - Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik

Behinderung und Sexualität - Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik

 

 

 

von: Barbara Ortland

Kohlhammer Verlag, 2008

ISBN: 9783170277601

Sprache: Deutsch

164 Seiten, Download: 7660 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Behinderung und Sexualität - Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik



1 Einleitende Ausführungen


Wie bereits im Vorwort dargelegt, wird den folgenden Ausführungen eine relationale Perspektive auf Behinderung und Sexualität zugrunde gelegt. Diese soll zunächst eine knappe theoretische Verortung und weitere Explikation erfahren.

1.1 Eine relationale Sichtweise von Behinderung


Aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive wird Behinderung nicht mehr als ein Kennzeichen einer Person gesehen, sondern als eine Relation verstanden, und zwar als eine Relation zwischen der als behindert bezeichneten Person und ihrer Umwelt (vgl. Walthes 2003, Leyendecker 2005, Ortland 2005 a, 2006 a, 2007 a).

Diese relationale Auffassung von Behinderung hat Walthes in folgender Definition zum Ausdruck gebracht: „Behinderung ist der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit“ (2003, 49).

So sind beispielsweise körperliche Schädigungen in Form von Infantiler Cerebralparese, Spina bifida, Muskeldystrophie o. Ä. in diesem Verständnis Bedingungen, die ein Mensch in eine Situation einbringt. Ob der Umgang mit diesen Bedingungen positiv verläuft, ist abhängig von den an der Situation Beteiligten. Alle sind für das Gelingen oder Misslingen der Kommunikations- und Interaktionsprozesse verantwortlich.

An einem Beispiel sei dies verdeutlicht: Eine Dysarthrie, die häufig in Verbindung mit einer Infantilen Cerebralparese auftritt, ist eine zentral bedingte Störung der Koordination des Sprechvollzugs. Sie realisiert sich für den Betroffenen in kaum vorhandener Lautsprache. Dies ist an sich noch keine Behinderung. Eine Dysarthrie wird dann zu einer Behinderung, wenn sich die beteiligten Gesprächspartner – trotz eines ‚perfekten‘ multimodalen Kommunikationssystems im Bereich der Unterstützten Kommunikation – auf diese Form der Kommunikation nicht einlassen (Anpassungsleistungen) und nur Lautsprache als ‚richtig‘ bewerten (Bewertungsprozesse). Das ‚Problem‘ der nicht gelingenden Kommunikation haben in diesem Fall alle Beteiligten, wenngleich es sicherlich für den Menschen mit Dysarthrie wesentlich gravierendere Auswirkungen hat. Eine Änderung des ‚Problems‘ kann allerdings vorrangig von den Menschen ohne Behinderung aufgrund deren variableren Kommunikationsmöglichkeiten vorgenommen werden.

Ob also ein Merkmal als Behinderung erfahren wird oder nicht, hängt von den Bewertungsprozessen und Anpassungsleistungen aller sozialen Partner in den verschiedenen Situationen ab. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass je ungewohnter ein solches Merkmal ist, wie z.B. bei einer schwersten, mehrfachen Schädigung, die Anpassungsleistungen umso größer sein müssen. Damit ist auch die Gefahr potenziert, dass die Schädigung in der Interaktion als Behinderung erlebt wird.

Bezogen auf den Bereich der Sexualität könnte das Beispiel auch folgendermaßen aussehen: Ein Mann mit einer Querschnittlähmung ist z.B. je nach Höhe und Ausmaß der Läsion nicht in der Lage, eine stabile Erektion zu erlangen. Damit bringt er auf der körperlichen Ebene eine zunächst von der überwiegenden Allgemeinheit abweichende Ausgangssituation für Genitalsexualität in eine Partnerschaft ein. Ob diese mangelnde Fähigkeit zur Erektion nun als Behinderung erlebt wird, hängt von den Bewertungsprozessen und Anpassungsleistungen der beteiligten Personen ab. Hier könnte man sich verschiedene Szenarien ausmalen: Unser Beispiel-Mann ist schwul und hat einen Partner mit einer Querschnittlähmung, so dass beide dieselben Voraussetzungen haben und dies als wenig einschränkend erleben. Oder: Er hat eine Partnerin, für die Genitalsexualität eine sehr bedeutende Rolle spielt und nur dies ‚richtige‘ Sexualität ist – sie wird die mangelnde Erektionsfähigkeit als eine Behinderung werten und ihn wahrscheinlich verlassen. Oder: Er hat eine Partnerin, die mit ihm gemeinsam die vielen anderen sexuellen Möglichkeiten erprobt und beide ein befriedigendes Sexualleben genießen. Oder: Er fühlt sich als minderwertiger Mann und beschließt, aufgrund der erlebten Behinderungen keine Partnerschaft mehr einzugehen. Fazit: Viele Bewertungsprozesse und Anpassungsleistungen sind möglich und denkbar und machen deutlich, dass Behinderung ein Konstrukt der beteiligten Personen ist.

Diese relationale Auffassung von Behinderung findet sich auch in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Allerdings wird mit dem Begriff der Behinderung in der ICF jede Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Menschen erfasst. Die Funktionsfähigkeit des Menschen wird dabei unter den drei folgenden Aspekten betrachtet (nach Dimdi 2002):

  1. Körperfunktionen und -strukturen auf der Ebene des Körpers und der Körpersysteme: Unter Körperfunktionen werden die physiologischen oder psychischen Funktionen von Körpersystemen verstanden, unter Körperstrukturen die anatomischen Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. Störungen auf dieser Ebene heißen „Schäden“ (impairments). Die Schäden werden in Funktionsstörungen und Strukturschäden gegliedert.
  2. Aktivitäten auf der Ebene des Menschen als selbständig handelndes Subjekt: Aktivität meint die Durchführung einer Aufgabe oder Tätigkeit durch eine Person. Störungen auf dieser Ebene werden Aktivitäts- oder Leistungsstörungen genannt (activity limitation). Das Konzept der Aktivität wird damit begründet, „daß zu handeln, aktiv zu sein, zu arbeiten, zu spielen, die Aufgaben und Arbeiten des täglichen Lebens zu erfüllen zu den zentralen Eigenschaften menschlichen Daseins gehören“ (Schuntermann 1999, 346).
  3. Partizipation an Lebensbereichen auf der Ebene des Menschen als Subjekt in Gesellschaft und Umwelt: Partizipation bezeichnet die Teilnahme oder Teilhabe einer Person in einem Lebensbereich bzw. einer Lebenssituation in Bezug auf ihre körperliche und geistig/seelische Verfassung, ihre Körperfunktion und -strukturen, ihre Aktivitäten und ihre Kontextfaktoren, also in Bezug auf ihre personbezogenen Faktoren und Umweltfaktoren. Eine Störung auf dieser Ebene wird als Partizipationsstörung bezeichnet. Begründet wird das Partizipationskonzept dadurch, „daß sich die Daseinsentfaltung einer Person stets im Kontext seiner sozialen und physikalischen Umwelt (kurz: Umweltfaktoren) vollzieht und von diesen mitbestimmt wird“ (Schuntermann 1999, 347). Inwieweit eine Person mit einem bestimmten Gesundheits- und Aktivitätsstatus Partizipation erlangen kann, steht im Wesentlichen in Verbindung mit den Umweltfaktoren.

Die ICF als Weiterentwicklung der ICIDH-2 wird als „Konzept der funktionalen Gesundheit“ bewertet, dem ein „bio-psycho-soziales Modell der Komponenten von Gesundheit“ (Dimdi 2002, 5) zu Grunde liegt. Damit kann sie zwar nach wie vor als defizitorientiert bewertet werden, jedoch liegt eine eindeutige Ressourcenorientierung vor.

Die Anerkennung der drei Ebenen der ICF unter Einbezug der Kontextfaktoren ist als Klassifizierungsmodell in der Rehabilitationspädagogik allgemeiner Konsens. Entgegen der ICF werde ich im Folgenden nur die Beeinträchtigungen der Aktivität und der gesellschaftlichen Teilhabe als Behinderungen bezeichnen. Für die Funktionsstörungen auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen werde ich die Begriffe der Schädigung bzw. der besonderen Lebensvoraussetzungen oder Ausgangsbedingungen des Lebens verwenden. Durch diese Unterscheidung wird deutlich fokussiert, dass Behinderungen durch entsprechend ungünstige bzw. behindernde Personenfaktoren und/oder Umweltfaktoren auf den Ebenen der Aktivität und Teilhabe konstituiert werden.

1.2 Eine relationale Perspektive auf Sexualität und sexuelle Entwicklung


Wie die Definition von Sexualität zeigen wird (vgl. Kap. zwei), werden sexuelles Verhalten und Motivation in großen Teilen als erlernbar verstanden. Grundlage dieses individuellen sexuellen Lernprozesses sind vielfältige, immer den ganzen Menschen betreffende Erfahrungen. Für Menschen mit z. B. Körperbehinderung können vor allem die körperlichen Erfahrungen (Ebene der Aktivitätsstörungen) und die Erfahrungen in Sozialkontakten (Ebene der Partizipationseinschränkungen) aufgrund der körperlichen Schädigung wesentlich verändert sein und damit Besonderheiten im individuellen sexuellen Lernprozess bewirken. Diese potentiellen Besonderheiten werden in den Kapiteln zur sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen weiter ausgeführt werden.

Die dargestellte relationale Perspektive auf Behinderungen verdeutlicht, dass das Vorliegen einer z. B. körperlichen Schädigung keine Auswirkungen auf die Entwicklung einer individuellen und subjektiv befriedigenden Sexualität bedeuten muss. Gelingt den Kindern und Jugendlichen, ihren Bezugspersonen und den Menschen, denen sie begegnen, der Umgang mit den verschiedenen Ausgangsbedingungen des Lebens zur Zufriedenheit aller Beteiligten, so bedeutet eine körperliche Schädigung allenfalls individuelle körperliche Voraussetzungen für die sexuellen Erfahrungen. Diese können verbunden sein mit negativen, positiven oder keinen Auswirkungen auf die sexuelle Entwicklung. Dies ist höchst individuell – wie jegliche sexuelle Entwicklung und Wahrnehmung sexueller Erlebnisse.

Es bleibt für alle potentiellen Veränderungen der sexuellen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung festzuhalten, dass sie nicht als Kausalzusammenhang in Bezug auf eine ‚behinderte Sexualität‘ zu verstehen sind. Aus der Perspektive der Menschen ohne Behinderung scheint eine körperliche Schädigung z.B. in Form einer Infantilen Cerebralparese mit demgemäß eingeschränkten bzw. veränderten...

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